Zu Beginn der Corona-Krise mussten meine gut befreundete Seminar-Kollegin Marion Hödl und ich unser gemeinsames Seminar in München mittendrin abbrechen. Alle Teilnehmer und auch wir waren darüber natürlich sehr traurig, denn in den 3 Tagen davor waren wir schon als Gruppe sehr schön zusammengewachsen und hatten gehofft, das Seminar noch zu Ende führen zu können. Und es war uns natürlich allen bewusst, dass dieser nun begonnene Ausnahmezustand noch über Wochen oder gar Monate andauern würde. Ich selbst z.B. kann also über diesen Zeitraum hinweg weder als Trainer Präsenz-Seminare geben noch weiter als Heilpraktiker praktizieren.
Trotzdem herrschte eine zuversichtliche und fast liebevolle Stimmung miteinander, alle haben sich Gründe für Zuversicht zugesprochen und Ideen ausgetauscht, wie man jetzt das Beste aus den kommenden Wochen oder auch länger machen könne, bis man sich wiedersehe. Und dies hat bis jetzt angehalten, bei uns in Form einer WhatsApp-Gruppe. Das hat natürlich auch mich sehr berührt.
Diese Stimmung und der Umgang miteinander wird in der Psychologie „Wir-Gefühl“ genannt. Der Begriff ist natürlich nicht wirklich neu, sondern schon lange bekannt, wird aber jetzt vermehrt in den Medien genannt und diskutiert.
Das Wir-Gefühl ist vielleicht das wichtigste Rezept für einen positiven Umgang miteinander und auch für erfolgreiche Beziehungen jeder Art.
Viele Menschen befassen sich angesichts der Krisensituation immer mehr mit dieser Thematik, oder leben das Wir-Gefühl intuitiv noch mehr als sonst aus. Und anderen hilft es, weniger in Angst zu verfallen, sondern eher Verbundenheit und Zuversicht zu fühlen. Deshalb ist das Wir-Gefühl für uns alle sehr wertvoll.
Ich bin sicher, jeder Leser kennt bereits aus vielen Situationen das Wir-Gefühl sehr gut, aber wenn wir noch mehr darüber wissen, können wir es noch intensiver entfalten, leichter genießen und trotz der Schwierigkeiten und der aktuell geforderten sozialen Distanz aufrechterhalten.
Aber was ist mit Wir-Gefühl genau gemeint?
Das Wir-Gefühl beschreibt einen Zustand von Verbundenheit und Zusammenhalt mit einer anderen Person oder einer ganzen Gruppe. Das können wir ganz im Allgemeinen empfinden, oder besonders oft dann, wenn wir auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet sind. Z.B., um eine Herausforderung gemeinsam zu meistern. So wie also beispielsweise vor der Krise ein halbes Fußballstadion vereint sein Bestes gegeben hat zusammen mit ihrer Mannschaft, um das Spiel zu gewinnen, können wir jetzt gesellschaftlich, durch die Krise ausgelöst und verstärkt, sogar mit bisher fremden Mitmenschen ein solches Wir-Gefühl empfinden.
Wichtiger Vorteil dabei für uns persönlich und auch als Gesellschaft ist, dass das Wir-Gefühl dabei ziemlich genau das Gegenteil von dem bewirkt, was Angst oder Stress in uns auslösen würden.
Im angenehmen Wir-Gefühl werden neurologisch nämlich Gefühle wie Angst, Stress oder Aggressionen automatisch herunterreguliert. Wir können uns etwa verbunden und zuversichtlich fühlen statt allein und überfordert. Es wirkt auf unser Nervensystem unglaublich beruhigend. Und das gilt nicht nur für Kinder, bei denen wir die Auswirkungen des Wir-Gefühls sofort beobachten können, wenn wir sie angesichts einer Angst in den Arm nehmen und beruhigen oder ihnen klarmachen, dass wir ihnen helfen werden. Auch uns Erwachsenen tut das gut.
Die Häufigkeit, das Wir-Gefühl im Alltag öfter zuzulassen, hängt direkt mit unserer Motivation dazu zusammen, und diese basiert darauf, dass uns die persönlichen und gesellschaftlichen Vorteile davon bewusst sind.
Deshalb noch ein paar weitere Vorteile des Wir-Gefühls, gerade in Krisensituationen, die aus der Positiven Psychologie bekannt sind und die wir momentan vielfach in unserer Gesellschaft beobachten können, sind z.B.:
- Wir sind im Vergleich zu gestressten Zustanden wesentlich kreativer und leistungsfähiger. Dies können man an neu gegründeten Online-Nachbarschafts-Organisationen, kreativen neuen Online-Geschäftsideen, neuen Lösungen für Versorgungsengpässe etc. sehr schön erleben. Und all das zu beobachten steigert oft zusätzlich wieder das Zusammengehörigkeitsgefühl von uns allen.
- Es ist viel leichter, Vertrauen und Optimismus und auch alle anderen positiven Gefühle zuzulassen, die wir jetzt gut brauchen können. Wir starten also mit Wir-Gefühlen auf einfache Weise eine Art Positiv-Spirale der Gefühle. Ängste dagegen blockieren und hemmen alle positiven Gefühle aufgrund neurologischer Prozesse im Gehirn.
- Wir können so viel empathischer auf die Bedürfnisse unserer Mitmenschen reagieren und so besser miteinander Lösungen für eventuelle Konflikte oder Schwierigkeiten entwickeln. Oder auch toleranter reagieren, wenn sich unsere Mitmenschen durch innere Ängste zu unharmonischen Verhaltensweisen getrieben sehen.
Und um hier gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Natürlich können wir auch im Wir-Gefühl Grenzen setzen, die eigenen Bedürfnisse verteidigen, oder sogar Kritik äußern. Nur der Kommunikationsstil wird dann freundlicher und konstruktiver und sogar nachweislich differenzierter sein, und so vermutlich auch besser aufgenommen werden von unseren Mitmenschen.
- Dass wir in positiven Gefühlen mehr Energie zur Verfügung haben, wirkt sich auch auf unseren Körper massiv aus. Unser Immunsystem funktioniert messbar deutlich besser, Wundheilung beschleunigt sich, und einiges anderes verbessert sich, was jetzt angesichts einer Pandemie nur nützlich sein kann. Viele Studien zeigen sogar, dass wir mit positiven Gefühlen durchschnittlich bis zu 7 oder gar 10 Jahren länger leben und dabei gesünder bleiben als mit überwiegend Stress oder Angst oder Pessimismus. Die sogenannten Stresskrankheiten sind dabei einer der bekannten Faktoren. Ein anderer ist z.B. das bei Dauerstress ausgeschüttete Hormon Cortisol, das wie das nach diesem Hormon benannte Medikament Cortison das Immunsystem unterdrückt.
- Und nicht zuletzt haben wir auf unsere Mitmenschen eine wesentlich angenehmere und positivere Wirkung. Auch mir selbst ging es so in den letzten Tagen, dass Begegnungen mit Nachbarn oder fremden Mitmenschen trotz körperlichem Abstand eine wesentlich tiefere Qualität von Nähe hatten, weil so viele Menschen gerade sehr hilfsbereit und bemüht miteinander sind, dass einfach viele berührende Momente und kurze schöne Gespräche im Vorbeigehen daraus entstehen können. Die sozialen Netzwerke sind glücklicherweise bereits voll von solchen schönen Beispielen, und das tut uns doch allen gut.
Jetzt kann man einwenden, dass es gar nicht einfach ist für manche Menschen, in Krisensituationen die Angst wegzulassen. Das stimmt natürlich.
Eine Bekannte von mir erzählte mir mal, dass sie und 2 Freundinnen im Afrika-Urlaub plötzlich zu Fuß vor einem Löwen standen. Und ihr erster Gedanke war: „Zum Glück bin ich schlanker als meine Freundinnen und kann deshalb schneller rennen!“ Ein wenig peinlich war ihr dieser Gedanke schon währenddessen, es waren immerhin ihre besten Freundinnen!
Wenn also eine reine Überlebensangst wie hier berechtigterweise in einer konkreten Situation ausgelöst wird, ist diese mit rein rationalen Argumenten schwer zu überwinden oder zu unterdrücken. Denn genau so reagiert halt unser Gehirn, wenn der Überlebenstrieb aktiviert wird. „In der Krise ist sich jeder selbst am nächsten!“ oder so ähnlich…
Und es gibt noch weitere schwierige Ausnahmen wie Panikstörungen oder größere Ängste vor zukünftigen lebensgefährdenden Situationen. Diese Ängste zu lösen erfordert therapeutisch mehr Aufwand als hier beschrieben. Dafür habe ich natürlich großes Verständnis. Hier darauf einzugehen würde aber den Rahmen dieses Artikels leider sprengen.
Doch in den meisten unserer Alltags-Situationen dagegen können wir sehr gut erkennen, dass wir nicht in Gefahr sind.
Und sobald wir dies realisieren, auch emotional, können zum Glück die meisten von uns eine bewusste (oder auch unbewusste) Wahl treffen, welcher Gefühlszustand in der jeweiligen Situation gerade am angemessensten und am hilfreichsten ist. Und hier bietet sich oft das Wir-Gefühl an, vor allem in Interaktion mit anderen Menschen.
Das Wir-Gefühl ist auf einer inneren Ebene meist auch eine Motivations-Frage:
Sobald mir bewusst ist, dass es momentan nur Vorteile hat, der aktuellen Krise besser (und so oft wie möglich) mit Wir-Gefühlen zu begegnen statt mit Angst oder Stress, können wir bewusst diesen Zustand einnehmen. Die wesentlichen Argumente dafür (und vor allem für unser Unterbewusstsein) habe ich deshalb zuvor aufgelistet. Wenn wir die oben genannten Vorteile des Wir-Gefühls auch auf die eigene Situation anwenden, können wir uns also bewusst dazu motivieren. Und das Gute dabei ist:
Je öfter wir das Wir-Gefühl zulassen, desto schneller und intensiver ist dieses Gefühl beim nächsten Mal abrufbar.
Das Gehirn trainiert sich hier wie ein Muskel, es bildet dichtere und größere Neuronen-Netzwerke für das trainierte Gefühl, was Neuroplastizität genannt wird. Und genau so machen es gerade viele Freunde, Familien oder Facebook-Gruppen untereinander: Sich gegenseitig bestärken mit Zusammenhalt und Gründen zur Zuversicht, berührenden Videos etc.
Was in diesem Zusammenhang auch viel gemacht wird in Internet-Posts, ist ein Umdeuten (Reframing) der Situation:
Statt sich gegenseitig nur Katastrophen- oder Worst-Case Szenarien zu beschreiben, werden jetzt schon die sich ergebenden Chancen der Krise für neue Ideen in unserer Gesellschaft oder positive Entwicklungen für die Natur diskutiert. Das heisst auch noch lange nicht, dass man dabei die Augen verschließen oder potentielle Gefahren ignorieren muss. Man kann ganz realistisch und verantwortungsbewusst den Schwierigkeiten oder Gefahren begegnen, und trotzdem auch einen Teil der Aufmerksamkeit auf das mögliche Positive in unserer Zukunft richten.
Das ist sogar gesund, sagt uns die Psychologie, denn wenn wir in unserem Geschehen im Leben, und ganz speziell in Krisen, einen Sinn sehen, sei es durch Religion, durch eine persönlich verfolgte Vision einer besseren Welt, für die persönliche Weiterentwicklung oder durch weitere solcher positiven Deutungsversuche, sind wir wesentlich resilienter für die Krise. Aus den vorhin beschriebenen Vorteilen positiver Gefühle heraus ist dies wieder leicht nachvollziehbar.
Also auch hier bewirkt das Austauschen positiver Sichtweisen auf die Situation ein noch stärkeres Wir-Gefühl, und beides bewirkt so eine höhere Resilienz, auch dann, wenn z.B. doch größere Schwierigkeiten auf einzelne zukommen sollten, wie etwa große finanzielle Einbußen und deren Folgen.
So positive Umdeutungen der eigenen Situation können auch ganz kleine Dinge sein.
Ich persönlich finde die nun geforderte „soziale Distanz“ zum Beispiel eine sehr wenig motivierende Formulierung. Und habe deshalb innerlich andere Begriffe ausprobiert. Das erste, was mir provisorisch einfiel, war „Wohlfühl-Abstand“, denn mit den vorgeschlagenen 1,5 bis 2 Metern muss ich mir weder um mich noch um mein Gegenüber Gedanken machen, und kann mich so wohler fühlen. Und tatsächlich, bei der nächsten Begegnung mit netten Nachbarn fühlte es sich gleich besser an, und es war so leichter, das spürbare Wir-Gefühl untereinander zu spüren zu genießen.
Einen letzten Aspekt zum Wir-Gefühl möchte ich noch aufgreifen, der gerade sehr große Auswirkungen hat auf jeden von uns und auch auf die gesellschaftliche Diskussion:
Wer ist denn gefühlt „Wir“? Und wer „die anderen“?
Denn diese innerlich getroffene Definition wirkt sich unmittelbar darauf aus, um wen ich mich kümmern möchte, wem ich beistehe, für wen ich empathisches Verständnis fühlen kann, und für wen etwas weniger. Ich definiere damit innerlich, zu wem ich das Wir-Gefühl wirklich zulasse, und zu wem nicht – sei es ganz bewusst oder auch nur unbewusst.
Wenn das gefühlte „Wir“ in manchen Situationen nur „ich und meine Familie“ sind, oder „ich und meine Freunde“, dann sind automatisch andere Menschen im Supermarkt „die anderen“, etwa „die Hamsterkäufer“, „die Unvorsichtigen“, etc. Denn Ablehnungsgefühle empfinden wir eher für Menschen außerhalb unserer selbst definierten Gruppe, auch „die Reichen“, „die Politiker“ oder ähnliches.
Und automatisch, fast instinktiv, wenn man nicht rational und bewusst diese Gefühle hinterfragt oder unterdrückt, nimmt man Vorteile für die „eigene Gruppe“ in Kauf oder Nachteile für „die anderen“.
Das kann die eine vieldiskutierte Packung Klopapier mehr sein für die Familie, das kann aber auch die umfangreiche Ladung Desinfektionsmittel oder OP-Masken für das eigene Land statt für ein anderes Land sein.
Ich persönlich finde es hilfreich, wenn man sich diesen (oft auch unbewussten) Effekt dabei vor Augen hält und sich wenigstens emotional bewusstmacht, dass es „die anderen“ gar nicht gibt, sondern dass ich selbst bestimme, für wen ich mehr Mitgefühl haben möchte und für wen eher weniger.
Meine persönliche Wir-Definition bestimmt hier meine Gefühle für andere Menschen.
Und bestimmt damit auch mein Verhalten. Es lohnt sich also, diese aufmerksam im Alltag zu überprüfen und gegebenenfalls auch zu überdenken, wenn man z.B. Ablehnungsgefühle reduzieren oder Mitgefühl gezielt erweitern möchte.
So, ich hoffe, ich konnte ein paar Anregungen geben, die das Wir-Gefühl in der momentanen Situation erleichtern oder unterstützen.
Wie man das Wir-Gefühl auch besser spüren kann trotz der jetzt räumlichen und „sozialen Distanz“ etwa zu den Freunden, das wird wohl ein extra Artikel werden.
Und wie man das Wir-Gefühl verbessern kann mit seinem Partner bzw. mit den Menschen, mit denen wir zusammenleben, statt in Konflikte zu geraten, das kann man schon in meinen ersten beiden Blog-Artikeln zum Thema Wir-Gefühl nachlesen. Da wir zur Zeit mehr Zeit zuhause miteinander verbringen, könnte das in der einen oder anderen Situation hilfreich sein:
Teil 1: Wir Gefühl bei Beziehungskonflikten
Teil 2: Wir Gefühl in Beziehungen
Ich wünsche allen einen weiterhin möglichst positiven und friedlichen Umgang mit der momentanen Situation und dass es euch und euren Liebsten gut geht!
Euer Stefan

NLP-Lehrtrainer (DVNLP), Glückstrainer, Heilpraktiker
Stefan Mörder ist NLP-Lehrtrainer und einer der erfahrensten Glückstrainer in Deutschland.
Er arbeitet seit 14 Jahren als Coach und Trainer und führt auch eine Praxis als Heilpraktiker mit dem Schwerpunkt Osteopathie in München. Über viele Jahre hat er zahlreiche 30-tägige Coaching Ausbildungen nach Ella Kensington® geleitet.